Wie fühlt sich eine Depression eigentlich an?

Hier müsste ich im Grunde genommen die Standardantwort geben: Das ist individuell unterschiedlich. Aber wer geistig nicht gerade eine Nacktschnecke beherbergt, wird sich das gedacht haben. Ich schildere das aus meiner Perspektive, bin mir aber aus Beobachtungen und Gesprächen mit anderen sicher, dass viele von uns sich gleich oder ähnlich fühlen.

Was ich an dieser Stelle anmerken möchte – und das ist mir ein großes Anliegen – ist, dass es hier nur darum geht, wie es sich für den Depressiven anfühlt. Wie das für einen Angehörigen/Partner/Freund etc. ist, kann ich nur annäherungsweise beschreiben und da wäre es besser, wenn das ein Betroffener schildert.

Ich habe für mich drei Metaphern entwickelt, die meine Depression beschreiben. Alle drei sind vom Prinzip her gleich und ich mache selbst oft keinen Unterschied. Jedoch gibt es immer leichte qualitative Feinheiten, die ich dann extra erwähne.

Meine Depression fühlt sich an, als ob Säure in meinem Kopf hin- und her schwappt. Das beschreibt für mich die zersetzende Wirkung, die die Krankheit hat. Jeder positive Gedankengang ist der Korrosion direkt ausgesetzt. Je stärker er ist, desto höher die Chance, dass er nicht sofort zerfressen wird. Aber auf Zeit frisst sich die Depression ihren Weg. Bitterkeit ist oft die Reaktion auf diesen zerstörerischen Vorgang.

Manchmal sage ich, dass es Gift ist, statt Säure. Das ist im Grunde dasselbe Gefühl. Aber es hat mehr die Qualität davon, dass es die Gedanken verändert, vergiftet eben. Es ist ein genauso zerstörerischer Vorgang, aber er führt bei manchen Gedanken eher dazu, dass sie sich ins Gegenteil verwandeln, oder sich generell negativ entwickeln.

Meine liebste Metapher ist aber das schwarze Biest. Stell dir einen schwarzen, haarigen Ball vor, der nur aus Muskeln, Klauen und Zähnen besteht. Das Vieh lauert in den dunkelsten Ecken deines Verstandes, absolut unsichtbar. Du weißt, dass es beständig lauert, aber du weißt nie, wann und von wo es zuschlägt. Die Depression ist ein Monster, das mit einer perfiden Intelligenz ausgestattet zu sein scheint. Manchmal schlägt es sofort zu, wenn es Beute wittert, manchmal wiegt es dich in Sicherheit und zerfetzt blitzschnell alles, wenn du geglaubt hast, dass es bergauf geht. Klar, du sperrst das Biest immer wieder ein, aber die Gitterstäbe sind wackelig, denn das Biest benutzt ja deinen Verstand, es ist ja ein verdammter Teil von dir. Es kennt deine Gedanken und es kennt deine Schwachpunkte. Buchstäblich nichts ist sicher vor ihm. Es empfindet scheinbar eine diebische Freude, daran mich zu verfolgen, mir aufzulauern und alles kaputt zu machen, was es nur kann.

Jetzt kennst du die Metaphern, aber du weißt noch immer nicht, wie es sich genau anfühlt. Das ich zuerst mit Metaphern um den heißen Brei tanze, liegt daran, dass es als nicht-depressiver schwer ist, den gefühlten Alltag nachzuvollziehen. Am ehesten könnte man sagen, dass man sich die schlimmsten Momente seines Lebens vorstellen soll. Ein geliebter Mensch stirbt, man befindet sich an einem Punkt im Leben, an dem alles verloren scheint, vielleicht war man einmal so verzweifelt, dass man sich gewünscht hat, dass man stirbt. Diesen Moment stellt man sich dann als ständigen Zustand vor. Das stimmt zwar nicht, aber es kommt wenigstens etwas an das Gefühl heran, was man fast alltäglich mit sich herumschleppt.

Das eigentliche Fühlen, respektive Nicht-Fühlen

Tiefe Verzweiflung, endlose Trauer, nicht mehr wissen, was man denken und fühlen soll, komplette Hoffnungslosigkeit, die Gewissheit der eigenen Wertlosigkeit, erstickende Stille und ein mächtiger Todeswunsch. All das sind Gefühle, die ich als Depressiver nur zu gut kenne. Am schlimmsten ist es, wenn mehrere davon zugleich auftreten. Der Todeswunsch ist immer in Begleitung, der kommt in den schlechten Phasen wie ein alter Vertrauter zu dir und bietet dir eine Tasse Kaffee an. Ich könnte mehr Beschreibungen wählen, aber nur ein Mensch mit einer vollständigen Emotionsfreiheit hat bis hierher keine Vorstellung davon, wie sich das anfühlen könnte.

Die Depression hat noch andere, wundervolle Eigenheiten. Schuldgefühl beispielsweise. Habe ich just gerade, als ich den Absatz davor schreibe. Kann ich diese monströse Dunkelheit anderen Menschen überhaupt zumuten? „Stecke“ ich jemand mit meiner Krankheit an? Löse ich bei einem anderen Depressiven in einer schwierigen Phase eine tödliche Verzweiflung aus, weil er sich an seine nachtschwärzesten Gedanken erinnert? Ich fühle mich aber auch schuldig, weil immer der Gedanke mitschwingt, dass ich etwas falsch mache. Dass andere negativ über mich urteilen könnten. Nach all dem, was ich durchgemacht und überlebt habe, nach all meinen Selbstreflexionen, trotz all meines antrainierten Mutes geht diese eine meiner wenigen Ängste einfach nicht weg: WAS DENKEN DIE LEUTE ÜBER MICH?

Die Krankheit nervt. Sie ist immer da, sie spottet und sie will verführen, ultimativ töten. Egal was ich tue, sie wird niemals ganz gehen. Therapien und Medikamente können sie behandeln, aber nicht auslöschen. Das Beste, was du zu erwarten hast, ist, dass du Wege findest, einigermaßen vernünftig mit ihr umzugehen. Sie abzumildern. Aber ganz weggehen? Das glaube ich nicht, nicht nur, weil die Krankheit das will, sondern weil ich denke, dass meine persönliche Depression chronisch ist. Sie ist nie therapeutisch behandelt worden und begleitet mich seit 30 Jahren. Das gilt nicht für alle Depressionen – viele sind heilbar und man kann mit Behandlungen gut auf die Dauer einer Phase einwirken. Grundsätzlich gilt, dass wir Depressiven achtsamer mit uns selbst umgehen müssen. Das ist wesentlich leichter gesagt, als getan. Ich nehme bezüglich meiner Eigeneinschätzung den depressiven Realismus für mich in Anspruch. Die modernere Depressionsforschung besagt, dass depressive Menschen oft eine realistischere Einschätzung der Situation haben, weil sie nicht die normale, „überschwänglich positive“ Sicht der Nicht-Depressiven haben. Diese über die Maßen positive Grundeinschätzung der eigenen Grenzen und Fähigkeiten ist etwas, was die meisten Menschen besitzen – und es ist gut und in Ordnung. Das ermöglicht Ihnen an sich selbst zu glauben und trotz Fehleinschätzungen besser mit Niederlagen umzugehen und mutiger ungewohnte Dinge anzugehen. Depressive gehen an alles mit einer niedrigeren Erwartung, an und neigen weniger dazu sich selbst zu belügen. Deswegen geben wir oft schon auf, bevor wir angefangen haben, oder kurz danach, weil wir uns keine Erfolgschancen einräumen. Auf der anderen Seite bringt es uns dazu besser zu wissen, was wir uns zumuten können und was nicht. Komplexes Thema und verdient eine eigene Abhandlung. Kurz gesagt siegt der Trieb zur Selbsterhaltung über die Selbsterkenntnis bei den Nicht-Depressiven. Schlechte Ausgangsposition für uns Depressive.

Depressive Phasen

Wenn ich eine depressive Phase habe, überkommt mich Sinnlosigkeit. Ich bin endlos verzweifelt und nichts kann mich aufmuntern. Vielleicht empfinde ich eine sinnlose Traurigkeit, vielleicht hat es einen Grund. Es ist aber alles egal. Denn nichts wird sich ändern. Du stirbst und kämpfst jeden Tag einen aussichtslosen Tag mehr dagegen an. Ein Tag mehr ist ein gigantischer Sieg. Klingt lächerlich und ich fühle mich schuldig, dass ich so theatralisch bin. Schon geht es mir schlechter, habe ich ja verdient. Wenn man sich ansieht, wie wenig ich in meinem Leben geschafft habe, dann könnte man heulen und mir den Gnadenstoß geben. Ich bin wertlos. Ich fühle mich wie ein elender Haufen Elend, der elendig rumjammert und besser tot wäre. Ich sterbe. Aktiv. Von mir selbst herbeigeführt – und ich kann nichts dagegen tun.

Selbst die banalsten und einfachsten Aufgaben sind schier unüberwindlich. Geschirr spülen? Dann muss ich aufstehen. Zu anstrengend. Ich müsste zum Aufstehen die Bettdecke beiseiteschieben. Nicht machbar. Dann das eine Bein aus dem Bett bringen. Unmöglich. Dann das andere. Pffff… Nein. Dann hochwuchten. Denk nicht mal dran. Selbst wenn ich das schaffen würde, müsste ich mehrere Schritte machen, um in die Küche zu kommen. Lächerlich. Dann den Wasserhahn anstellen. Ich weine. Den Schwamm greifen. Kopfschütteln. Das Spülmittel… Hören wir lieber auf damit. Die Verzweiflung hat längst gesiegt und ich ziehe die Bettdecke über meine Augen und wünsche mich weg. Ich will einfach nicht existieren. Und das geht dir mit jedem bisschen so. Duschen. Anziehen. Einkaufen. Essen. Selbst am Computer spielen, was sonst immer klappt, um mich abzulenken und das kreischende Monster in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen, geht oft nicht. Heulen – das geht. Bis das nicht mehr geht. Dann vegetierst du in deinem Bett vor dich hin und hoffst, dass es endlich vorbei ist. Wenn es gut läuft und die Phase nicht allzu schwer ist, schaffst du es wenigstens, etwas zu essen und ein Spiel zu zocken, eine Serie zu sehen oder Musik zu hören, während du das Tausend-Yard-Starren in das Nichts übst. An schlechten Tagen spielst du ernsthaft mit dem Gedanken dir einmal Mühe zu geben. Vier Schritte aus dem Bett zum Balkon. Tür auf. Auf die Brüstung klettern. Vier Stockwerke Freiheit und Lächeln. Dann eine Ewigkeit Ruhe und Frieden. Erleichterung.

Der Witz ist: Du willst gar nicht sterben. Aber der Verführer ist mächtig, wesentlich mächtiger, als sich das ein Nicht-Depressiver vorstellen kann.

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