Das Janus-Gesicht der guten Laune

Mirtazapin. Das Zeug, auf dem ich seit fast drei Monaten bin. Ein Antidepressivum, welches meine Gefühlswelt, Launen, Depressionen, Emotionen oder wie immer du es nennen willst, balancieren soll. Wirkt es nun, oder wie? Ich erzähle dir hier, wie es bei mir wirkt und worauf du dich vermutlich einstellen musst, wenn du es mal bekommen solltest.

 

Dosierung ist alles, Geduld noch mehr

Zu Anfang erhielt ich eine 15mg Tablette pro Tag. Abends einzunehmen, vor dem Zu-Bett-Gehen. Soweit, so einfach. Gut, ich musste mich disziplinieren, weil ich ein echter Eimer bin, was Gedächtnisleistungen betrifft. Mit einer Ausnahme aber, habe ich es geschafft, in etwa meinen 24-stündigen Rhythmus einzuhalten. Das klingt so unspektakulär, aber wenn dein Kopf mehrheitlich damit beschäftigt ist, wie du dich am besten umlegst, oder wie du das am besten verhinderst, oder wie du der Frage standhältst, ob du endgültig über die mentale Klinge gesprungen bist…. Ist das eine ziemliche Herausforderung für mich gewesen. Ich bin froh, dass ich sie gemeistert habe.

Doch ich will nicht vorgreifen, denn es gibt zuerst etwas zu besprechen. Antidepressiva haben reale Nebenwirkungen, die man keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen darf. Mich haben nicht alle möglichen Nebenwirkungen getroffen, doch ein bisschen Federn musste ich schon lassen. Wenn du da draußen ein Antidepressivum bekommst, tu dir den Gefallen und beobachte dich selbst mit Adleraugen. Wenn du das Mittel nimmst, dann tust du das aus der (unmöglichen) Hoffnung heraus, dass sich deine Lage verbessert. Dass du nicht springst, schneidest, hängst, erstickst oder die Augen zumachst und das Lenkrad bei 180 loslässt. Die Wahrheit ist, dass ein Medikament eine depressive Episode auslösen kann. Also dass das Antidepressivum einen verstärkenden Effekt hat. Ich sage das, weil es dich treffen kann und du besser darauf vorbereitet bist.

Ich hatte das nicht, nicht als physischen Effekt. Allerdings als psychischen Effekt. Denn Mirtazapin hat bei mir zwei Monate erst mal gar nicht gewirkt. Ich hatte keine Verbesserung, was mich geschafft hat. Du machst dir Vorwürfe, dass du den Quatsch auf dich nimmst. Du denkst dir, siehst du, bringt nix. Du willst aufgeben, weil der Strohhalm nicht hält, dir zwischen den Fingern durchflutscht. Ein ätzendes Gefühl des Versagens, Verlierens. Ich muss kaum betonen, dass dieses Gefühl es erst einmal schlimmer macht.

Ich hatte mich aber selbst unter Beobachtung und meine bessere Hälfte hat mir dabei geholfen, mich immer wieder an die Selbstreflexion erinnert. Hilfreich, sucht dir jemanden, wenn du keinen hast.

Ich bin zu meinem Arzt gegangen und habe den ausbleibenden Erfolg beschrieben. Daraufhin erfuhr ich, dass die Regeldosis für einen Erwachsenen bei 30mg liegt, man durchaus auch 45mg gibt. Aha. Packungsbeilage nicht aufmerksam genug gelesen. Nach Erhöhung der Dosierung gefragt. Bluttest, ob die Leber das Medikament gut verträgt (Aha! Deswegen erst einmal geringere Dosierung!). Grünes Licht, mehr Stoff. Yay!

Die magische Dosis, der seidige Gleitschritt ins doofe Grinsen

Die Disziplin hält, die Dosis ist auf „normal“. Es beginnt wieder das Warten. Diesmal aber nicht so lange, wie zuvor, immerhin ist ein Grundspiegel des Wirkstoffes ja konstant in mir, arbeitet, säuft und feiert. Du darfst dir einen winzigen Moment des Innehaltens gönnen. Du hast es bis hierher geschafft. Es schadet nichts, wenn du das jetzt ausprobierst, du hast ja nichts zu verlieren, außer das Gift in deinem Schädel.

Die Dosierung wirkt, die Nebenwirkungen bleiben. Du bekommst davon zuerst gar nichts mit. Dann plötzlich fällt dir auf, dass du entspannter bist. Seltsam, eben huscht dir ein Lächeln über das Gesicht, das da nichts zu suchen hat. Was will der Schelm da? Die Sonne strahlt, die Luft ist herrlich, das Grün der Blätter lässt dich träumen. Du lächelst. Einfach so. Kein Anlass, kein Grund zu schauspielern. Du. Hast. Gute. Laune.

Fuck!

Es ist einfach so passiert, hat sich in dein Leben geschlichen wie das Licht morgens in deine Augen, wenn du aufwachst. Du spürst es nicht, außer es passiert. Habe ich dämlich gegrinst. Erleichterung, pure Freude. Soviel, dass du weinst. Vor Freude. Verrückt. Abartig. Pfff, so machen die anderen das also. Bescheuert.

Es tut gut, wenn das passiert. Aber jemand, der das seit Jahrzehnten mitmacht, der ist erst einmal misstrauisch. Geht das mit rechten Dingen zu? Bleibt das jetzt so? Was, wenn es nicht hält? Na ja, so ist das eben mit alten Hunden und neuen Tricks. Es dauert ein paar Tage, bevor du vorsichtig optimistisch sagst „Du, ich glaube das Zeug wirkt!“ Leuchtende Augen.
Bleibt die Frage nach den erwähnten Nebenwirkungen. Die sind da, die gehen vermutlich nicht wieder weg. Es ist der Preis, den du eben zahlst.

Ich bin oft und schnell abgelenkt. Es fällt mir schwer, mich auf eine Sache zu konzentrieren. Wenn ich die Konzentration mehr als zwei, maximal drei Stunden halten will, dann wird das schnell zur Grenzerfahrung. Dabei bin ich jemand, der am liebsten nur eine Sache gleichzeitig macht. Multitasking, diese giftige Lüge unseres selbst auferlegten Optimierungswahns. Es gibt kein echtes Multitasking für den Menschen. In Wahrheit sind das die einzelnen Aufgaben in kleine Schritte zerlegt schnell wechselnd hintereinander abgefragt. Es wist erwiesen, dass die einzelnen Aufgaben darunter leiden. Aber das nur nebenbei, ich war nie Fan davon. Umso schlimmer für mich, dass ich nicht konsequent bei einer Sache bleiben kann.

Müdigkeit. Oh, ein leidiges Thema. Ich brauche mehr Stunden Schlaf, um mich nur annäherungsweise erholt zu fühlen. Mirtazapin ist ein Sedativum, ein Mittel zur Ruhigstellung. Ich rechne es nur meiner schon erhöhten Medikamenten-Resistenz zu, dass ich erstaunlich gut funktioniere. Aber es fällt mir schwer, früh aufzustehen, und wehe ich lege mich tagsüber hin. Mir reichen fünf Minuten liegend mitten am Tag, um von 180 auf Schlaftablette zu stellen. Ich ratze so weg. Keine Chance dagegen anzukämpfen, wenn ich nur ein paar Sekunden zögere, wenn ich die Müdigkeit anrollen sehe. Aufrecht bleiben hilft, in Bewegung, was tun. Wenn ich ruhe, dann gleich für zwei Stunden oder mehr. Na gut, manchmal denke ich mir nur „Geschenkt!“ und halte halt ein paar Stunden Mittagsschlaf. Ich schätze, ein wenig habe ich mir das verdient, ich elendiger Opportunist.

Wie geht es weiter?

Ich nehme weiterhin Mirtazapin. Die Aussage meines Arztes lautete: „Wir wären verrückt daran herum zu schrauben, wo es endlich funktioniert. Sie können das ein Leben lang nehmen, macht ja nicht abhängig.“ Ein Leben lang von der kleinen Wunderpille abhängig – oh warte, macht es ja nicht – sein. Ach, was soll es. Andere rauchen, saufen, huren herum, werfen Automaten ihr Geld an den Kopf. Ich nehme halt mein Seda… Antidepressivum und trinke nur begrenzt Alkohol. Verträgt sich nicht so gut damit, warnt mich die Packungsbeilage. Was mich nicht daran hindern wird hin und wieder mal ein Radler zu trinken. Zeig’s dem Leben!

Macht was draus, ihr habt nur das eine!

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