Es ist ein schwieriges Thema, das ich normalerweise nicht erläutere, mit niemandem. Aber vor einigen Tagen gab es trotzdem dieses Gespräch. Es ist mir nicht neu, dieses Thema, aber es ist neu, dass ich darüber gesprochen habe. Es ist an der Zeit, das zu beleuchten.
Wer bist du wirklich?
Mir hat noch niemand diese Frage gestellt, doch ich stelle sie mir alle Nase lang. Wieso mich niemand danach fragt, liegt vermutlich auf der Hand. Ich handele, ich spreche, also können sich die Leute um mich herum immer ein Bild davon machen, wer ich bin. Zumindest, wer ich für sie bin. Das variiert logischerweise von Person zu Person. Die Wahrnehmung eines Menschen ist subjektiv, es gibt nur wenige, wenn man davon in der Wahrnehmung überhaupt sprechen darf, objektive Marker. Bei mir kommt hinzu, dass ich Masken trage und mich aus Selbstschutz den jeweiligen sozialen Umgebungen und Situationen anpasse. Automatisch, ohne darüber nachzudenken, ohne andere bewusst zu täuschen. Ich tue das, weil ich es tun muss, weil ich überleben muss. Jede Schwäche kann und wird ausgenutzt werden. Das ist weniger Theatralik, als es auf den ersten Moment anmutet, glaube mir.
Ich habe eine geistige, seelische Krankheit, die mich verändert hat, ganz unwillkürlich. Und damit hat sie verändert, wer ich bin, wer ich sein konnte, sein kann und sein werde. Was passiert, wenn mein Medikament wirkt? Wer werde ich dann sein, wenn ein Teil von meiner Lebensrealität sich verändert? Wer wäre ich, wenn ich diese Krankheit nicht hätte? Wäre ich ein glücklicherer Mensch geworden? Ein Egomane, ein Soziopath, ein Heiliger, ein normaler Durchschnittstyp? Ich weiß es nicht und ich werde es nie erfahren. Die Vergangenheit kann nicht rückgängig gemacht werden. Meine Gegenwart wäre eine völlig andere. Vermutlich ist es weise zu sagen: „Du bist, wo du bist. Du hättest nicht der werden können ohne all das. Du hättest diesen und jenen Menschen nicht kennengelernt, du hättest jetzt nicht diese Familie.“ Das alles ist wahr und ich kann es nicht abstreiten. Dennoch bin ich anders, denn ich kenne mich selbst nicht wirklich. Ich kenne mich selbst nur krank. Mein Leben hat sich zu früh geändert, als dass ich genau wüsste, welcher Teil von mir „ich“ ist und welcher Teil die Krankheit ist, oder von ihr verändert wurde. Ebenso könnte man einen Blinden fragen, ob er sich vorstellen kann zu sehen. Im Vergleich würde er vermutlich sagen: „Ich habe als kleines Kind gesehen. Ich habe eine vage Vorstellung davon, aber das ist zu lange her.“
Spielt das eine Rolle?
Nein, nicht für meinen Alltag, nicht für irgendwen sonst. Alle anderen kennen mich so, wie ich eben bin. Sie mögen mich so, oder sie verabscheuen mich so, oder ich bin ihnen so egal. Auch ändert sich durch mein Unwissen nicht, wer ich zurzeit bin, denn der bin ich ja nun einmal. Aber mich treibt es um. Ich frage mich, wozu ich in der Lage gewesen wäre, denn ich fühle mich mein ganzes Leben zurückgehalten. Ich glaube, dass mehr in mir steckt, als ich zeigen kann, mir selbst gestatte zu glauben und ich fähig wäre. Doch es kann und kommt nicht heraus. Immer wenn ich einen Start mache, lande ich nach kurzer Zeit auf dem rauen Boden der Tatsachen, oft mit blutiger Nase. Ich habe mehr Buchideen gehabt und verworfen, als die meisten Menschen in ihrem Leben lesen. Ich habe diverse Buchanfänge auf meinem Rechner liegen, einige sind lang. Einer schon 115 Seiten, das ist etwa ein Drittel des geplanten Buches. Doch keines ist fertig.
Ausbildung, Studium (zweimal) – alles angefangen, doch nie fertig. Wer wäre ich, wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre, wenn mich meine Krankheit nicht gestoppt hätte – und das hat sie. Und wer wäre ich nicht, wenn ich nicht krank wäre? Ist die Krankheit ein untrennbarer Bestandteil von mir? Ändert ein Medikament oder eine Therapie jemals etwas daran? Vermutlich können mir selbst die erfahrensten und gebildetsten Spezialisten auf dem Gebiet der Depression darauf keine genaue Antwort geben. Ich würde mich jedenfalls wundern.
Wer will ich sein?
Ich fürchte fast, dass dies die einzig sinnvolle Frage in meiner Situation ist. Und die Antwort ist zugleich der größte Hemmer, wenn ich die Frage in meinem jetzigen Zustand zu beantworten suche. Ich weiß es nicht, aber ich nehme an, dass selbst gesunde Menschen bei dieser Frage in Erklärungsnot kommen. Für mich ist sie ein Stressauslöser.
Wer bin ich denn, dass ich mir so eine Frage herausnehmen darf? Ich bin ein Loser, ein Versager. Ich habe niemand zu sein wollen. Anmaßung, beschleunigter Puls, Schuldgefühle. Wer ich gerne sein würde? Die Tränen kullern und meine Kehle zieht sich zu. Ich ringe um eine Antwort, doch ich darf keine haben, denn das Ding in meinem Kopf sagt das. Menschen um mich herum sehen das Leid und beantworten es. Du fühlst dich mies, aber das brauchst du nicht. Du bist schon wer, du kannst und darfst jemand sein, vertrau mir.
Scham. Endlose Scham.
Ich hoffe, dass das Medikament nicht nur Nebenwirkungen hat. Zurzeit bin ich leicht reizbar, ich habe Schwierigkeiten, meine Emotionen zu kontrollieren. Ich denke andauernd an den Lauf einer Waffe an meiner Schläfe. Nebenwirkung von Mirtazapin? Es kann die Verschlechterung der Depressionen verursachen. Klingt lächerlich oder unglaubwürdig für ein Medikament gegen Depressionen? Ist aber so und leider erlebe ich es selbst. Ich habe von mehreren Seiten gehört, dass das Zeug am Anfang reinhaut. Ich dachte erst, dass die Muskelschmerzen und die Müdigkeit gemeint waren. Aber ich glaube jetzt, zu wissen was gemeint ist.
Ich bin jetzt trotzig und nehme mir etwas heraus. Ich erlaube mir, die Frage zu stellen, wer ich sein will. Sobald Medikament und Therapie mich in die Lage dazu versetzen, mich dieser Ungeheuerlichkeit zu stellen. Wenn sie es denn tun.
Dein Hautloser